Der Nachtzug von Mailand nach Paris ist beliebt bei Migranten. Was keiner weiss: Er rollt durch die Schweiz. Hier greifen die Grenzwächter jene ohne gültige Papiere auf. Wir waren dabei. Es riecht nach Schlaf und nach abgestandenem Schweiss. Die Schweizer Grenzwächter zwängen sich durch den schmalen Seitengang von Tür zu Tür. «Police, open the door!», sagt einer und klopft. Es ist zwei Uhr in der Nacht. 15 Minuten sind vergangen, seit der Nachtzug «Thello» auf Gleis 1 in Brig eingefahren ist.

Gegenüber den Schlafwagenabteilen liegen auf der Fensterbank die Reisepapiere der Passagiere bereit. Italiener, Franzosen, Amerikaner, Koreaner, Nigerianer, Gambier, Tunesier, Pakistani, Kongolesen, Ukrainer befinden sich an Bord.

Der Thello ist der Nachtzug, der die norditalienischen Städte Mailand und Venedig mit Paris verbindet. Touristen nehmen ihn auf ihrem Europatrip, Geschäftsleute oder Reisende, die ihre Bekannten und Verwandten besuchen. Unter ihnen sind auch Migranten, Flüchtlinge. «Wir treffen auf diesem Zug gleich vielen Nationalitäten an, wie auf einem internationalen Flughafen», sagt Hauptmann Patrick Benz. Jean-Luc Boillat kommandiert die Operation. Mit dabei ist auch ein Fälschungsexperte. Er wird noch einiges zu tun haben in dieser Nacht.

Der Thello, eine Art Migranten-Express, fährt die Strecke zwischen Italien und Frankreich jede Nacht. In keinem Zug auf dieser Strecke reisen mehr Migranten mit. Viele wollen von Frankreich weiter nach Grossbritannien. Das Schweizer Grenzwachtkorps macht in Brig sogenannte Schwerpunktkontrollen. Aus taktischen Gründen will Benz nicht sagen, wie oft. «Wir kontrollieren den Zug ein paar Mal jeden Monat», sagt Benz. Zu häufigeren Kontrollen reichen dem Grenzwachtkorps die Ressourcen nicht aus, ohne anderswo Abstriche zu machen. Systematische Kontrollen sind auch aus rechtlicher Sicht nicht möglich. Sie würden das Prinzip des freien Personenverkehrs in Europa verletzen.

Waggon für Waggon arbeiten sich die Grenzwächter durch den Zug. Ihr Blick verharrt auf schlaftrunkenen Gesichtern. Es ist nicht einfach, die Passfotos in den Papieren mit den Gesichtern der Menschen abzugleichen, die in den Couchette-Abteilen liegen. «Wir kontrollieren jeden Einzelnen», sagt Benz. Bei einem jungen Mann mit Pass aus Burkina Faso stutzen die Beamten. Das Gesicht will gar nicht zum Passbild passen. Die Grenzwächter übergeben den jungen Mann ihrem Kollegen auf dem Perron.

Am frühen Abend haben die Passagiere in Venedig den Zug bestiegen. Andere sind später zugestiegen. Die meisten in Mailand um elf Uhr. Der Zug ist nur halb voll. 260 Passagiere haben die italienischen Staatsbahnen der Schweizer Grenzwache gemeldet. Die wenigsten Passagiere wussten überhaupt, dass der Zug nach Frankreich via Schweiz fährt. Im Fahrplan steht nichts von einem Halt auf Schweizer Boden.

Die Angehaltenen sind müde und verunsichert. «Uniformen sind in manchen ihrer Heimatländer nicht gerade mit Vertrauen verbunden», gibt Hauptmann Benz zu bedenken. «Das müssen wir berücksichtigen.» Die Grenzwächter sind freundlich, aber bestimmt im Ton. «Das sind keine Verbrecher und es ist nicht angenehm, mitten in der Nacht von Uniformierten aus dem Schlaf gerissen zu werden», sagt Benz. Ein älterer, rundlicher Mann reicht ihm einen Stapel Pässe. «Ich bin der Manager einer Band aus Gambia. Hier, die Ausweise der Mitglieder», sagt er.

Mit den gambischen Pässen ist alles in Ordnung. Die Kontrollen verlaufen ruhig. So ist es nicht jede Nacht. Benz erzählt von Menschen, die sich in den Hohlräumen unter den Sitzbänken verstecken. Oder auf den Gepäckablagen oben in den Schlafabteilen. Auch sei es vorgekommen, dass sich Zugbegleiter haben bestechen lassen und Migranten sich von ihnen in Ablagekammern einschliessen liessen.

Auch Kommandant Boillat hat schon manches gesehen. «Einmal hatten wir einen Afghanen mit einer Schussverletzung. Unglaublich, er muss in seiner Heimat angeschossen worden sein.» Boillat schüttelt den Kopf. Der verletzte Afghane wurde damals von den Franzosen in die Schweiz weggewiesen.

Das ist einer der Gründe, weshalb das Grenzwachtkorps in Brig Kontrollen macht. Rückübernahmeabkommen müssen eingehalten werden. Wer ohne Papiere aus Italien in die Schweiz einreist, kann nach Italien zurückgebracht werden. In Frankreich verhält es sich gleich. «Dann müssen wir die Abgewiesenen in Vallorbe abholen und weiter schauen mit den Italienern, ob wir sie nach Domodossola bringen können», sagt Benz. So wird eben der Zug in der Schweiz angehalten. Erst anderthalb Stunden später, um 3.15 Uhr in der früh, rollt der Thello weiter. «Wir kontrollieren, solange es nötig ist», sagt Hauptmann Benz. Auf den Fahrplan nehmen die Grenzwächter keine Rücksicht.

Zum jungen Mann aus Burkina Faso kommen weitere 15 Passagiere hinzu. Auch bei ihnen waren die Papiere unzureichend, gefälscht oder sie fehlten ganz. Für sie ist Brig in dieser Nacht Endstation. Vor einem erneuten Versuch, nach Frankreich zu kommen, müssen sie zurück nach Italien. Der Zug ist abgefahren. Ausnahmslos sind es Männer, die nun in einem grossen Warteraum sitzen. Viele von ihnen sind jung. Sie warten darauf, von den Grenzwächtern befragt zu werden. Erklärungen in 50 Sprachen liegen zur Übersetzung auf. Es ist ruhig, die Männer sind müde. Einer der Grenzwächter bringt Tee, Kaffee und Biscuits. Nach der ersten Befragung wird einer nach dem anderen in einen der Nebenräume gebracht.

Dort nehmen ihnen die Beamten die Fingerabdrücke. Sie werden ins Schweizer System eingespeist. Gleichzeitig überprüfen sie in Datenbanken, ob nach einem der Männer gefahndet wird. Danach geht es zur körperlichen Durchsuchung. «Wir suchen sie nach Schmuggelwaren oder Waffen ab», erklärt Benz. Einer protestiert. Er verlangt, dass die Türe ganz geschlossen wird, als zwei Beamte ihn auffordern, sich auszuziehen. Bei einem Afrikaner mit jugendlichem Gesicht werden die Grenzwächter fündig. Er hat sich als Kongolese ausgegeben, doch sein Pass ist gefälscht. In seiner Unterhose hat er weitere gefälschte Papiere und 98 gefälschte 50-Euro-Scheine versteckt. Die Grenzwächter haben ihn in einer abgeschlossenen Kammer mit Milchglas separiert. Später werden sie den Geldschmuggler der Kantonspolizei übergeben.

Die Bahnhofsuhr auf Gleis 1 zeigt bereits halb fünf Uhr. Ein paar der aufgegriffenen Männer schlafen, andere starren müde vor sich hin. «Betten stellen wir keine auf», sagt Hauptmann Benz. Der Bahnhof erwacht. Menschen auf dem Weg zur Arbeit erscheinen. Soldaten ziehen ihre schwere Rollkoffer hinter sich her. Was für ein Kontrast zum leichten Gepäck, das die Grenzwächter den angehaltenen Migranten abgenommen haben. Die meisten von ihnen hatten gerade einmal einen kleinen Rucksack dabei. Statt in Frankreich sind sie in Brig sitzen geblieben. Und warten, bis das Grenzwachtkorps die italienischen Kollegen erreicht hat. Und ihnen die Rückreisetickets ausgestellt hat.

Die Grenzwächter sprechen sich mit den SBB ab und setzen die Männer in Züge, in denen es Platz hat. Hauptmann Benz sagt: «Die Wegweisung einer Gruppe wie dieser erfolgt immer physisch.» Also in Domodossola, wo die italienische Grenzwacht wartet. «Je nach Stimmung in der Gruppe werden sie von unterschiedlich vielen Beamten begleitet», so Benz. Während mit den Soldaten die ersten Pendler nach Bern fahren, warten die Afrikaner und Asiaten noch immer darauf, zurück nach Italien gebracht zu werden. Kein Einziger hat in der Schweiz ein Asylgesuch gestellt. Nach einer langen Nacht folgt für sie ein noch längerer Tag.