Bild: Mario Heller
Bild: Mario Heller

Der Fotograf Simon Tanner ist seit Frühling 2017 im Vorstand der vfg. Seine fotografische Karriere begann mit der Ausbildung am MAZ – Die Schweizer Journalistenschule. Seither arbeitet er als Fotograf für die NZZ.

1. Was war auf deiner ersten, bewusst gestalteten Fotografie zu sehen?

Ich glaube (und es ist mir nun ein bisschen peinlich), dass es eine Makroaufnahme eines Rebblatts auf einem Leuchttisch war.

2. Welches deiner Projekte hat dich bisher am meisten bewegt?

Im Rahmen des Projekts “Still Dreaming” (2013), welches sich mit dem Erbe der Bürgerrechtsbewegung in den USA beschäftigte, stand ich in einer “black church” und alle Anwesenden (gegen tausend Gottesdienstbesucher) sangen “We shall overcome”.

3.Warum fotografierst du überhaupt und wie bist du dazu gekommen?

Wie ich die Welt sehe, entscheidet, wie ich über sie denke. Also ist es mir wichtig, meine persönliche Sicht auf die Dinge formal umzusetzen und dem Betrachter zu vermitteln. Dank der Fotografie ist es mir möglich, meine Wahrnehmung und Interpretation von Wirklichkeiten zu kommunizieren. Mich treibt die Chance an, durch eine visuelle Umsetzung soziale und politische Themen zur Diskussion zu stellen.

4. Bist du in zehn Jahren noch Fotograf? Was wäre die Alternative?

Wir befinden uns zurzeit (wieder einmal) in einer Transformation. Getrieben durch technische Innovation wird sich das Gebiet der visuellen Kommunikation grundlegend verändern. Keine Ahnung in welcher Form, aber in zehn Jahren werde ich mich (hoffentlich) immer noch mit visuellen Mitteln ausdrücken. Vielleicht im Sinne eines metaphotographer (Fred Ritchin), welcher keine Bilder mehr produziert, sondern die Unmengen an Material zu kontextualisieren und kuratieren versucht.

5. Wer sind deine Vorbilder?

Ich habe nicht wirklich Vorbilder, aber natürlich viele Leute, die mich inspirier(t)en und beeinfluss(t)en: Hito Steyerl, Rinko Kawauchi, Trevor Paglen, Ruth van Beck, Ren Hang, Alec Soth, John Yuyi, Rob Hornstra, Thomas Albdorf, Simon Menner, Yoshinori Mizutani, Sylwia Kowalczyk, Amalia Ulman, Masha Svyatogor, Zhang Xiao, Martin Essl, Cao Fei, Nico Krijno, Özgür Atlagan, Cristina De Middel, Thomas Sauvin, Rafal Milach, Beni Bischof, Martin Kollar, Erik Kessel und viele weitere…

6. Wie hat die Fotografie deine Lebensumstände beeinflusst?

Das Geld reicht nur noch für Würstchen und keine Steaks mehr…

7. Talent ist wichtiger als Technik. Wie siehst du das?

Meiner Meinung nach ist Technik von geringerer Bedeutung. Entscheidend sind die Autorenschaft und der vermittelte Inhalt. Aber selbstverständlich beeinflusst das technische Medium die Konzeption, Produktion und Rezeption. Aber am Anfang sollte das Denken stehen und nicht die Wahl der Technik.

8. Erläutere deine Arbeitsweise und beschreibe einen typischen Arbeitstag!

Nach Sonnenaufgang Blende Acht. Nach Sonnenuntergang ein Stativ.

9. Wen würdest du in Zukunft gerne einmal fotografieren?

Porträtfotografie ist nicht meine Kernkompetenz, deshalb habe in dieser Hinsicht keine Wünsche.

10. «Die Blende einer Kamera und die Pupille sind nicht dazu da, Informationen hereinzulassen, sondern dazu, welche auszublenden.» Was ist deine Meinung zu diesem Zitat?

Also zuerst gibt es sicher einen Unterschied zwischen einem mechanischen Gerät und einem menschlichen Organ. Aber ich glaube schon, dass die Fotografie unseren Blick auf die Welt und auf uns verändert, indem sie immer nur einen Ausschnitt zeigt und so die Fantasie anregt und Interpretationsspielräume eröffnet. Fotografien werden so zu Projektionsflächen der Betrachter.

11. Für wen würdest du gerne fotografieren?

Ich arbeite lieber ohne Auftraggeber, aber in der Hoffnung, dass sich andere dafür interessieren könnten.

12. Von wem würdest du dich gerne mal fotografieren lassen?

Von einer Fledermaus. Wäre gespannt auf das Echoortungsporträt von mir.

Sinnbilder – I am not really confident, but I think (2017)

In Brockenhäusern und auf Flohmärkten erschliesse ich mir ein Universum an gebrauchten Gegenständen, die von ihren ursprünglichen BesitzerInnen entwertet wurden. Ich schreibe ihnen einen neuen Gebrauchswert zu, indem ich mit den Figuren und Objekten Zusammenhänge herstelle, die keine eindeutigen Sinnbilder, sondern einen Interpretationsraum entstehen lassen. Da die Bilder neben der visuellen Ebene auch eine überlagerte Sinn- oder Deutungsebene haben, werden sie von Maschinen nicht erkannt. Im Unterschied zu Menschen verfügen die Bilderkennungsprogramme (noch) kein kulturell tradiertes Bildverständnis, sondern analysieren Bilder lediglich anhand von Mustern.
Bildschirmfoto 2017-06-20 um 15.12.10
Dieses Beispiel zeigt die (noch) belustigende Leistung des Captionbots von Microsoft (www.captionbot.ai) bei der maschinellen Erkennen von Bildern.

Mit diesem Bild will ich jedoch die  Tendenz zur Individualisierung in der Gesellschaft thematisieren. Kann eine Gemeinschaft noch funktionieren wenn sich die einzelnen Mitgliedern (nur) nach den eigenen Interessen und Bedürfnissen orientieren?
“Markt und Internet haben sich als mächtige Kräfte erwiesen, die zwar die Wahlmöglichkeiten des Einzelnen erweitern, zugleich aber den sozialen Zusammenhalt westlicher Gesellschaften haben erodieren lassen, weil sowohl der Markt als auch das Internet den Hang des Einzelnen verstärken, seinen natürlichen Präferenzen zu folgen.” (Ivan Krastev)

Die Arbeit “Sinnbilder” behandelt sowohl gesellschaftspolitische und philosophische Themenbereiche wie auch technische und kognitive Aspekte (Bildwahrnehmung, maschinelles Lernen).

Mehr zu hören über Simon gibt es an der nächsten Bildersoirée in der Photobastei Zürich.